Der französische Überraschungshit und heiße GOTY-Anwärter wurde sogar von höchster Staatsstelle gelobt: Aus dem Stand hat das Team von Sandfall Interactive ein kleines Meisterwerk auf die Welt losgelassen. Ist Clair Obscur: Expedition 33 vielleicht sogar das bessere Final Fantasy?
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Worum geht’s?
Das Inselvölkchen von Lumière wird jedes Jahr aufs Neue von einer übernatürlichen Katastrophe heimgesucht: Eine gottähnliche Frau, die sogenannte Malerin, pinselt auf einen Berg im hohen Norden seit Jahrzehnten eine jährlich um 1 kleiner werdende Zahl – und alle Menschen dieses Alters lösen sich ein Jahr darauf in Luft auf. Während sich die einen dem Schicksal ergeben und den Gommage genannten Massenmord zelebrieren, gibt es auch in jedem Jahr eine Expedition. Das Ziel: Mehr über die Malerin und das Phänomen herauszufinden und allen voran die Malerin zu stoppen. Denn nach dem Ende der 34er steht jetzt eine 33 auf dem Berg. Es bleibt also nicht mehr viel Zeit, bis alle Menschen ausgelöscht sind. Jetzt versucht sich die Expedition 33 an dem aussichtslosen Unterfangen…
Is the hype real?
Meine Google-Startseite war auf einmal voll vom „kommenden Geheimtipp“ aus Frankreich, der von einem 33-köpfigen Kernteam programmiert wurde, rundenbasierte Rollenspiele wieder sexy machen wollte und mit großen Vorschusslorbeeren schon fast overhyped war. Ich war einfach neugierig, und der vergleichsweise günstige Kurs von 45-50 Euro hat’s mir nicht schwer gemacht.
Dass ich mir Spiele direkt zum Release kaufe, ist wirklich eine Ausnahme. Im Grunde mache ich das nur bei zwei altbekannten Spielen bzw. Serien: Major-Releases von Zelda sind stets heiße Kandidaten – und alles aus der Welt von Final Fantasy VII muss asap in meinen Besitz gelangen. Aber sonst? Warte ich Reviews ab. Oder hoffe auf einen Preissturz. Und im Normalfall hole ich die Spiele dann entweder nie nach – oder sie landen irgendwann für ’nen schmalen Taler dann doch noch in meinem Schrank. Dass ich sie spiele, ist dann trotzdem nicht gesagt.
Yes!
Und genau hier ist Clair Obscur tatsächlich die große Ausnahme von der Regel. Direkt zur Veröffentlichung im Saturn besorgt und dann auch binnen etwa eines Monats durchgedaddelt. Das hatte ich so nicht kommen sehen.
Dabei hatte es eher schleppend angefangen. Ich habe zwar direkt losgelegt und mochte auch das Setting, aber die ersten Stunden und Tage war ich maximal moderat dabei. Hier mal ein Stündchen, da vielleicht mal zwei. Aber weit entfernt vom exzessiven „mir egal, dass ich morgen arbeiten muss oder bereits seit acht Stunden den Controller in der Hand habe“-Dauergezocke.
Timing ist alles
Das lag ein Stück weit an zwei Punkten: Das versprochene rundenbasierte Rollenspiel wurde mit Echtzeit-Elementen gepimped. So kann man bei richtigem Timing eigene Angriffe verstärken, aber auch gegnerischen Attacken ausweichen. Oder noch besser: man kann sie parieren und dann zu einem mächtigen Konter ausholen. Die Systematik kenne ich ähnlich noch aus Final Fantasy X (war nie ein großer Fan). Aber es hat ein bisschen zu lange gedauert, bis ich sie halbwegs internalisiert hatte. Außerdem wirkten die ersten Gebiete zwar bildhübsch, aber auch ein bisschen monoton und unübersichtlich.
Irgendwann hat es trotzdem Klick gemacht. Es war nötig, noch ein bisschen tiefer in diese seltsame Welt, in dieses Bild von einem Spiel einzutauchen, die Story zu atmen und diese malerischen Grafiken einfach zu bewundern, um das Werk als Ganzes greifen zu können. Dann wollte ich es nicht mehr aus der Hand geben. Der Einfallsreichtum hat mich absolut vereinnahmt.
Schrullige Pinselköpfe
Das Gegnerdesign ist im Großen und Ganzen top, die schrulligen pinselköpfigen NPC-Gestrals wachsen einem schnell ans Herz und die Nebenaufgaben sind für das Spielende zwar optional, aber essentiell, wenn man die Geschichte vollumfänglich begreifen will. Die Minigames sind dagegen grenzwertig gewesen. Floß-Volleyball und Parcours klingen zwar witzig, sind sie jedoch nur bedingt, wenn die Genauigkeit in der Steuerung flöten geht.
Die eigene Party besteht nur aus fünf Personen, von denen drei gleichzeitig auf dem Schlachtfeld stehen, aber sie bringen alle ihr eigenes Schicksal und eigene Fähigkeiten mit, sodass jeder seinen Lieblingstrupp finden sollte. In alter RPG-Manier erhält man nach Kämpfen Erfahrungspunkte, die man auf Fähigkeiten verteilen kann. Die vielen Waffen skalieren teilweise mit diesen. Zusätzlich erweitern verschiedene Pictos genannte Items die taktischen Elemente des Spiels, da sie den Charakteren weitere Fähigkeiten verleihen.
Immer besser und besser
In der Day-One-Edition als auch nach dem ersten Patch war das alles noch etwas umständlich zu händeln, mit den aktuellsten Patches soll das aber ausgebügelt worden sein. Ebenso wie die teils schwierige Kollisionskontrolle in Dungeons und auf der Weltkarte. Das Spiel ist zwar schon ein paar Monate draußen, aber es wird weiterhin an einem noch besseren Spielerlebnis gefeilt – weitere Quality-of-Life-Verbesserungen sollen folgen. Top!
So hat man auch den Story-Modus noch etwas heruntergefahren. Ich fand’s auf dem mittleren Schwierigkeitsgrad manchmal etwas knackig, mit entsprechendem Grinden aber insgesamt ganz gut machbar. (Ein Hinweis an der Stelle: Ich habe den Fehler begangen und bin vollkommen overpowered auf Level 99 in das Ende marschiert, um vorher auch die Geheimbosse schlagen zu können. Im Nachgang wünsche ich mir, ich hätte erst im New Game+ alles ausgereizt, weil das Finale so zu leicht war.)
Der Soundtrack ist ein Kunstwerk für sich
Auch wenn es nicht um weniger als das Ende der Welt für alle Beteiligten geht, bleibt der Spaß nie vollends auf der Strecke. Sogar an eine kleine Liebelei ist gedacht, wenn man immer fleißig mit allen redet. Das Spiel nimmt sich selbst nie zu ernst – besticht dabei aber mit einer wahnsinnigen Balance aus Drama und Fantasy. Das alles vor einer Szenerie, die die Belle Époque bestens einfängt.
Highlight ist aber tatsächlich nicht die Grafik oder die Videosequenzen, bei denen man kaum einen Qualitätsunterschied zu großen Triple-A-Titeln feststellen kann. Die Musik trägt die Kämpfe und die Geschichte grandios. Was da komponiert und gesungen wurde, war in keinster Art und Weise zu erwarten. Nicht umsonst hat der Soundtrack diverse Rekorde gebrochen.
Die 33 ist alles
Es zählt wahrscheinlich auch ein bisschen zur Mythenbildung, dass das Spiel vom 33-köpfigen Team nach 33 Tagen bereits 3,3 Millionen Mal verkauft wurde. Aber sowas mag ich ja. Ebenso bockt das Spiel auch so richtig nach dem zweiten Akt, wenn die Charaktere, allen voran Maelle, entfesselt sind.
Ungeachtet dessen wurde hier mit viel Liebe zum Detail ein wunderschönes Spiel mit einer faszinierenden Geschichte auf den Markt gebracht – dem ich den Titel des Game-of-the-Year von Herzen gönne. Das liegt weniger in meinen tatsächlich auch minimal französischen Wurzeln begründet, sondern in meiner Verehrung für alte JRPGs, große Geschichten und ein schlichtweg überzeugendes Gameplay. Weiter so!
MADDIN MEINT
Ich kann und muss mich allen Jubelarien für dieses Spiel anschließen: Clair Obscur – Expedition 33 ist wie ein Gemälde, dessen Sinn sich einem nicht sofort erschließt, das einen dann aber nicht mehr loslässt, wenn man es verstanden hat. Eine dramatische Geschichte, eingerahmt von einer traumhaften Inszenierung samt wundervollem Soundtrack und einem spaßigen und abwechslungsreichen Gameplay, das JRPGs wirklich wieder attraktiv macht. Tatsächlich kein Final Fantasy, aber das ist gut so. Die Entwickler haben hier ein eigenständiges Meisterwerk abgeliefert – garniert mit der einen oder anderen Hommage an die großen Vorbilder. Trotz vorhandener Kinderkrankheiten: Ich kann eine etwaige Fortsetzung kaum erwarten!

